Freitag, 11. Oktober 2019

Leseprobe: Der Stau

Liebe Leserinnen und Leser,

heute möchte ich euch eine Geschichte aus meinem aktuellen Buch:

Allerlei kurze und längere Geschichten von lustig bis besinnlich bis sarkastisch

vorstellen.

Ich wünsche euch viel Vergnügen.
Michael Uhlworm




Der Stau

Mariel freute sich, endlich ein langes Wochenende und sie hatte Richard ganz für sich alleine. Sie hat­ten die letzten Jahre keine Urlaube machen kön­nen, alles Geld war in das Haus geflossen.
Sie schaute aus dem Küchenfenster und sah, wie Ri­chard den Wagen gerade aus der Garage gefahren hatte und die zwei Koffer, einer für ihn, einer für sie, in den Wagen zu hieven begann.

Richard fluchte innerlich. Wieso mussten Koffer von Frauen und speziell von Mariel nur immer so schwer sein. Vier lange Tage sollten es werden, mit Mariel ganz alleine, vier ganze Tage. Worüber soll­te er denn nur mit ihr reden? Wieso hatte er sich darauf eingelassen? Er tröstete sich mit dem Ge­danken, dass diese vier Tage mit Mariel nur kur­ze und überschaubare Ewigkeiten waren.
»Richard, bist du soweit? Ich freue mich ja so und was für ein wunderbares Wetter wir haben, sieh nur kein Wölkchen am Himmel«, übermütig drehte Mariel sich im Kreis. Sie hatte ein leichtes, grell geblümtes Sommerkleid angezogen, dass ihre Knie freiließ, und einen breiten Strohhut mit rosa Schleife auf ihren Kopf gesetzt.
Richard wienerte noch die Windschutzscheibe und drehte sich zu ihr um.
»Ja ich bin fertig, wir können starten. Also los dann, fahren wir.«
»Ist der Tank auch voll? Haben wir auch nichts vergessen?« Mariel schaute zum Haus zurück und versicherte sich zum Wiederholten mal, dass alle Fenster geschlossen waren. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und sah Richard zu, wie er etwas ins Navi eintippte.
»Wirklich Richard, weißt du noch, wie ich damals immer die Straßenkarten lesen musste und immer alles vertauscht habe? Und jetzt, tipp, tipp und schon geht’s zum Ziel.«
Richard schaute sie müde an, »ja damals, ist ja auch erst zwanzig Jahre her.« Er gab Gas.

Es ging auf die Landstraße, einer geraden Allee gesäumt mit Pappeln, zur Autobahn hin.
»Ich weiß noch, wie du damals einmal auf einen Parkplatz gefahren bist und mich küssen wolltest. Weißt du noch?« Mariel kicherte jung.
Richard legte eine Disc der Rolling Stones ein, Dump, Dump machte das Schlagzeug. Richard drehte auf und nahm die Autobahnauffahrt. Mariel schaute gedankenverlo­ren aus dem Seitenfenster »haben wir denn nichts von Richard Claydermann? Ich mochte sein ro­mantisches Klavierspiel so sehr.« Ihre helle Stim­me ging in den Bässen unter. »Richard! Hörst du mir überhaupt zu?« Mariel starrte sein Profil an.
Richard erschrak aus seinen Gedankenspielen. Gerade eben überlegte er noch, wie er Höllermann, seinen Kollegen und Konkurrenten um den Abtei­lungsleiterposten, bei den anstehenden Beförde­rungsentscheidungen elegant und endgültig rauskicken könnte.
»Mein Gott Mariel! Du bist keine achtzehn mehr. Nein von Claydermann ha­ben wir nichts«, polterte er.
»Da siehst du, jetzt ha­ben wir es. Ein Stau.« Richard bremste den Wagen ab. Ausgerechnet mit Mariel wird er jetzt in diesem gottverdammten Stau stehen müssen. Na prima, der Tag war für ihn gelaufen.
»Was hat der Stau mit Claydermann zu tun? Du bist so unromantisch geworden und das nicht erst seit gestern«, Mariel schnäuzte sich die Nase, »und ich weiß, dass ich keine achtzehn mehr bin. Sag es doch, ich bin dir zu alt geworden.« Mariel weinte.
Mariels Weinen dauerte nicht lange, als sie plötz­lich zur Amazone wurde.
»Ich weiß genau was du willst du Mistkerl. Du willst Abteilungsleiter wer­den und dir eine junge Sekretärin krallen. Nein Freundchen, das schlag dir mal aus dem Kopf, nicht mit mir«.
Richard schaute ertappt aus der Wäsche und Mariel konnte es in seinem Gesicht ablesen, »Nein mein lieber Richard, das wird nichts. Ich lasse mich von dir scheiden und dann darfst du mir Unterhalt zahlen und das Haus kriegt die Bank. Dann wirst du ja sehen, wie du als armer Schlucker an die jungen Dinger kommst.«
Mariel drehte sich abrupt zur Seite und schaute verbittert aus dem Seitenfenster.
Richard blieb stumm, Mariel hatte seine geheims­ten Wünsche erraten. Würde er den Posten bekom­men, würde die knackige Michelle seine Sekretä­rin. Michelle, träumte er, die mit diesem mörderi­schen Hüftschwung und erst neunundzwanzig. Nicht zu alt und nicht zu jung für ihn und sie war ohne Mann. Perfekt! Doch jetzt musste er zum Schein kapitulieren, ehe es ihm aus dem Ruder lief.
»Aber Mariel, was redest du dir da ein? Wenn ich erst einmal Abteilungsleiter bin, dann können wir die Hypothek fürs Haus schneller ablösen und uns endlich schöne Urlaube gönnen. Freust du dich denn gar nicht darauf?« Was er sich da sagen hörte, konnte er selber nicht glauben. Umso überraschter war er, als Mariel nach seiner Hand griff.
»Glaubst du wirklich wir könnten ein neues, ein besseres Le­ben haben, wir beide, du und ich?«, lächelte sie jetzt versonnen.
Irgendetwas regte sich in Richard, er wusste nicht genau, was es war aber es nagte sich vorwärts, ver­suchte, ihn zu erreichen. Nein, er kämpfte dagegen an. Mariel hatte mit seiner Zukunft nichts mehr zu tun. Er brauchte eine billige Lösung um Mariel los­zuwerden, sie durfte sein Leben nicht zerstören.
»Mariel«, begann er, »wir dürfen nichts überstür­zen«, er musste, ja er wollte lügen.
»Sieh mal Ma­riel, wir sind jetzt zwanzig Jahre zusammen und was haben wir nicht alles gemeinsam geschafft? Das Haus und das alles.« Seine Finger trommelten aufs Lenkrad.
»Ja Richard, das Haus zahlen wir noch zehn Jahre ab, vielleicht auch weniger, wenn du mehr verdienst. Aber was haben wir sonst noch? Vielleicht wäre es mit Kindern schöner ge­worden«, sie hielt noch immer seine Hand, strei­chelte sie jetzt.
Jetzt hatte er sie, Blut floss in seinen Verstand »Kinder? Ja ist es meine Schuld, dass wir keine Kinder haben konnten? Es ist deine Schuld! Du konntest keine Kinder haben, ich schon, bei mir war alles klar«, triumphierte er. Die Zeichen stan­den auf Sieg. Weitermachen! Zerstören!
»Und jetzt, wo du mir den Wunsch nach Kindern nicht erfüllen konntest, jetzt willst du mich erpressen und mir meine Zukunft rauben. Das ist nicht fair Mariel, das ist nicht richtig.« Er spürte wie ihre Hand erstarrte und seine losließ. Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus.
»Was soll das Mariel? Wo willst du denn hin?« Er bekam es mit der Angst zu tun und da war es wieder, dieses hartnä­ckige Nagen, es ließ nicht locker. Er stieg jetzt ebenfalls aus und lief Mariel hinterher. »Herrgott Mariel, wir sind auf einer Autobahn. Mariel bitte warte doch.«
Doch Mariel rannte weiter, immer schneller werdend an stehenden Autos vorbei, Richtung Stauende. Der Verkehr auf der Gegenfahrbahn lief zügig und sie spürte den Fahrtwind der vorbeirasenden Reisenden, Fliehenden und nur Nachhausefahrern.
»Mariel nun warte doch! Lass uns reden.« Er wusste, er war zu weit gegangen, seine Vorwürfe richteten sich jetzt gegen ihn, drohend wie ein geladener Gewehrlauf. Er hastete ihr hinterher, kam ihr aber nicht näher, so schnell lief sie.
Dieses Schwein, ging es Mariel durch den Kopf. Nie waren eigene Kinder zwischen ihnen ein Thema gewesen. Er hatte ihre Unfruchtbarkeit sogar begrüßt. Natürlich hatte sie ihm den Grund dafür niemals verraten. Er hatte auch nicht gerade eindringlich nachgefragt, er hatte es einfach so hingenommen und vielleicht sogar begrüßt. Das Adrenalin setzte ungeahnte Kräfte in ihr frei und machte ihre Gedanken so klar wie eisige Luft im Winter am Berg.
Hatte Mutter wirklich nichts gewusst? Hatte sie nicht wenigstens etwas geahnt? Oder war sie nur so froh darüber gewesen, einen wie Gisbert gefunden zu haben, der eine Alleinerziehende heiratete, damals in den siebzigern? Gisbert war der erste Mann in Mariels Leben. Er war lieb und zärtlich zu ihr, wie es ein richtiger Vater nicht hätte besser sein können. Seine Zärtlichkeiten wurden heimlicher und aufdringlicher, als Mariel erste äußerliche Anzeichen beginnender Weiblichkeit entwickelte.
Von da an waren Mutters Nachtschichten im Werk für Mariel eine Qual und Tortur, deren sie sich nicht entziehen konnte. Die Scham verschlug ihr die Sprache und sie schwieg. Mit sechzehn war sie schwanger und Mutter außer sich. Gisbert gab sich verständnisvoll und schlug eine Klinik in Holland, nahe Amsterdam vor, wo das Malheur, gegen Bargeld, beseitigt werden konnte. In der Klinik ging alles sehr schnell. Mariel war den Fötus aber auch ihre Fruchtbarkeit los. Bedauerlich, aber so etwas könne schon mal passieren, der Andrang aus Deutschland war eben so groß und Hektik produziere schon mal kleinere Fehler, erklärte der Operateur, der nicht selber operiert hatte.
Gisbert nahm es gelassen und ließ Mariel fortan in Ruhe. Mutter belehrte sie, sich nicht wieder leichtfertig mit einem Jungen einzulassen, fragte aber nicht, wer dieser Junge gewesen sein könnte. Mariel war es ganz recht, hätte sie doch keine Antworten auf diese Fragen gehabt. Mutter starb früh, Gisbert verschwand aus ihrem Leben nach irgendwohin und Mariel hatte bald ihren Richard zum Mann und zum vergessen.
Richard begann zu prusten, sein Atem wurde flacher. Mariel war ihm auf dreißig Meter enteilt. Was tat sie da? Er wollte rufen, schreien, doch seine Lungen gaben keine Luft mehr her.
Mariel hielt kurz inne. Warum eigentlich nicht? Richard hatte mit seinen Vorwürfen ihre Zukunft beendet, ihr Schicksal besiegelt. So soll es also sein. Sie kletterte über die Leitplanke. Es ging ganz schnell, sie brauchte nicht zu warten, schon der erste Wagen erfasste sie.
Richard sah Mariel durch die Luft wirbeln. Er wusste sofort, es war vorbei. Das scharfe Bremsen des Wagens, der Mariel tötete, brachte ihn zum schleudern sodass er sich auf der Fahrbahn drehte. Nachfolgende Autofahrer waren zu überrascht um der Katastrophe ausweichen zu können und krachten aufeinander und verkeilten sich ineinander.
Richard stand jetzt, fassungslos die Szenerie begreifend, starr und still. Er war das perfekte Ziel für das in den Stau aufgefahrene Motorrad das sich zum Fluge erhob und Richard mitsamt seiner späten Reue erschlug.

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Düsseldorf.

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